Februar 2016: Ich fahre durch das Atlasgebirge in Marokko. Die Luft ist frisch, die Berge sind für die Saison mit zu wenig Schnee gepudert. Ich bin vorsichtig – es gibt Schlaglöcher so groß wie Krater, Felsen, ein paar hundert Meter tiefer Abgrund an der Seite. Die Straße ist schmal. Ich wünschte, ich hätte einen Jeep oder einen 4x4. Stattdessen nutze ich meine Fähigkeiten als Fahrerin eines Kleinwagens und feile an meinen Reflexen, wenn entgegenkommende Autos auf der anderen Seite fahren. Glücklicherweise sind sie selten und dünn gesäht. Dank des schwierigen Zugangs sind diese Gebiete relativ unberührt, und jedes Tal und jeder Pass ist atemberaubend schön.
Es reicht von dunklem Vulkangestein über gelben, roten Ton bis hin zu einer Mond- und Marslandschaft. Ich bin in eine angehaltene Zeit voller Anachronismen versetzt. Dörfer sehen aus, als wären sie in einer anderen Zeit stecken geblieben, bis man sieht, dass die Häuser alle Satellitenschüsseln auf ihren Flachdächern haben, wenn auch oft ohne Warmwasser oder Heizung. Die Straße wird deutlich schlechter, und das Auto fühlt sich sehr zerbrechlich an. Das ist der Moment, in dem ich denke: Ihr Berge, ihr lasst mich das wirklich verdienen.
Ich halte an, mache eine Foto.
Um allein dorthin zu fahren musste ich gegen den Rat vieler Menschen, einschließlich meiner Familie, verstoßen – in meinem Heimatland würde man so etwas normalerweise nicht machen. Ich musste mir eine Karte ansehen und losfahren und einfach sehen, was passiert.
Ich stelle sicher, dass ich Bargeld habe (es gibt hier oben keine Geldautomaten), überprüfe die Wettervorhersage und den Straßenzustand. Das Auto ist jedoch eine Blase, eine Zelle, ein Schild. Das Auto bietet eine schiefe Wahrnehmung von Zeit und Entfernung. Wandern kann uns eine körperlichere Erfahrung bieten. Es erlaubt uns, uns durch Zeit und Raum in den Bergen, den Tälern, der Küstenlinie zu bewegen, ihre Temperaturen, ihren Duft zu spüren, ihre Herausforderungen und unsere Schwachstellen auf physische und mentale Weise zu überwinden. Dann können wir beginnen, ihre und unsere eigene Identität zu verstehen.
Ich wandere die Arouss-Schlucht im Happy Valley: eine 10 km lange Tageswanderung mit einem Höhenunterschied von 600 m durch eine Schlucht, die mich nach Ikkis auf 2276 m über dem Meeresspiegel führt. Es ist eine sehr zerklüftete, raue, aber schöne Landschaft, und der Aufstieg ist langsam. Ich musste den Lebensraum verstehen, um die Berber im Atlas zu verstehen.
Die Zeit vergeht langsamer, bleibt fast stehen. Stille. Stille. Nur der Wind spricht. Esel tragen Lasten von Büschen ins Dorf hinunter, das ein paar Stunden weiter unten liegt. Sie gehen allein – sie kennen den Weg, er liegt inzwischen in ihren Genen. Sie tragen die Geschichte dieses Landes auf dem Rücken. Ich erreiche die kleine Gruppe von Häusern, aus denen Ikkis besteht, das nur über den Weg, den ich gegangen bin, zu erreichen ist. Sie bieten mir Tee und Brot, einen willkommenen warmen Drink für den Wind, der bitterkalt geworden ist. Die Dorfbewohner hier haben fast nichts, leben ein sehr hartes Leben, aber sie werden Dir immer eine Tasse Tee anbieten. Ich bin wahrscheinlich die einzige Ablenkung des Tages oder der Woche. In dieser Gegend gibt es zu dieser Jahreszeit kaum Besucher. Egal wie abgelegen die Gegend ist, du bist hier nie völlig isoliert. Es scheint immer irgendwo jemanden zu geben, ein getarntes Dorf, näher als man denkt.
Die kanadischen Rockies haben eine ganz andere Identität. Sie haben noch viel mehr Geräusche: Die toten Bäume quietschen, die Blätter flüstern im Wind, zusammen mit Vögeln und Eichhörnchen. Weit hat hier eine ganz neue Bedeutung, hochskaliert. Ich wählte ein Ziel aus und ging los. Die Wege können hier sehr belebt sein – ich bevorzuge die ruhigeren, also mache ich mich früh auf den Weg. Ich treffe viele Wanderer, Camper und Wildtiere, aber keine versteckten Dörfer in diesen weiten Räumen.
Der Sentinel Pass ist eine 12 km lange Tageswanderung, die am stark frequentierten Moraine Lake in der Nähe von Lake Louise beginnt und einen Höhenunterschied von 732 m aufweist. Sie bietet alles: eine steile Serpentine durch einen dichten Wald am Anfang, um die Fitness herauszufordern, ich schaffte es schnaubend und keuchend. Nach dieser Begrüßung wurde ich auf dem vergleichsweise einfachen Rest der Wanderung durch das Larch Valley von hubschraubergroßen Moskitos bei lebendigem Leib aufgefressen, bekam aber Gänsehaut beim Anblick der 10 Gipfel und des Minnestimma Lakes, bevor ich über eine zweite Serpentine auf den Grat stieg. Das war herausfordernder, als es aussah, der Pfad war zum Teil noch mit Schnee bedeckt.
Ich musste in den Rocky Mountains mein Tempo reduzieren. Die Höhe verlangt es. Mir gefiel es nicht - ich mochte es nicht, wenn ich beim Beschleunigen außer Atem geriet und mir schwindlig wurde. Ein Teil von mir dachte: Gut, dass ich allein bin, niemand sieht mir beim Kampf zu, schließlich würde es niemand erfahren, wenn ich mich gekniffen hätte. Aber ich würde es wissen. Der andere Teil von mir wünschte sich eine Stimme, die mir sagte: Komm schon, Malika, Du kannst es schaffen! Auch das ist mir klar, dass ich das kann.
Giuseppe Penone, ein Künstler der Arte Povera, spricht von "dem Raum einer Identität, wie Raum im architektonischen Sinne Identität ist". Diese Identität ist nicht nur durch eine visuelle Beobachtung wahrnehmbar, sie muss mit ihr interagiert, gespürt, gerochen werden. Die Welt um uns herum ist nicht nur mit den Augen zu sehen. Wir haben viele andere Werkzeuge uir Verfügung. Ich spreche nicht von externen Werkzeugen. Es ist körperlicher als das.
Die Welt ist ein Raum. Unsere Körper nehmen in dieser Welt Raum ein – sie sind eine Landschaft an sich. Und es gibt auch einen Raum in unserem Kopf, einen sehr weitläufigen. Alle drei sind verbunden. Manchmal vergessen wir es. Die Wildnis verbindet die Punkte wieder.
Herausforderungen, die wir allein angehen, ermöglichen es uns, zu wachsen, die Schichten abzustreifen und aus unseren alten Schuhen herauszukommen. Niemand kann uns ein Etikett oder eine Erwartung ankleben, wie wir "traditionell" reagieren würden. Wir sind frei, den alten Weg zu verlassen, während wir durch Landschaften und Gedankenlandschaften gehen.
Als ich den Grat am Sentinel erreichte, hatte ich einen Schwarm von Schmetterlingen in meinem Bauch. Ich konnte nicht aufhören zu lächeln, ich wollte auf und ab springen. Ich achtete auf die anderen auf dem Bergrücken. Ganz oben macht es immer vollkommen Sinn. Ich wollte nicht zurückgehen. Wieder nach unten zu gehen ist immer mit einer Mischung aus Melancholie und Euphorie gefüllt. Ich mag Wanderungen, die einen anderen Weg nach unten bieten.
"Die Zeit, die uns jeden Tag zur Verfügung steht, ist elastisch; die Leidenschaften, die wir fühlen, erweitern sie, diejenigen, die uns inspirieren, schrumpfen sie, und Gewohnheiten füllen sie." --Marcel Proust
Alles ist relativ und subjektiv. Auch die Zeit. Sie hat Spannung, es kann elastisch sein.
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